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Die Liebe ist unmöglich. Bis sie es eines Tages nicht mehr ist. Zumindest Disney gönnt seinen Schmachtenden zuverlässig einen Kuss mit anschließender Hochzeit und an dieser Tradition will auch „Arielle, die Meerjungfrau“, die lange erwartete Realverfilmung des Zeichentrickklassikers von 1989 nicht rütteln.
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Die Wellen rauschen, fallen wild übereinander her und lassen sich nicht wieder los. Der Schaum, der in der Eröffnungsszene bildschirmfüllend auf der Wasseroberfläche wabert, darf als Hommage an Hans Christian Andersens Märchen von 1837 verstanden werden. In diesem verwandelt sich die Meerjungfrau, die ihren Prinzen nicht bekommen kann, am Ende in tragischen Meeresschaum. Und kaum erinnert man sich, da erscheint auch schon der Name des Dänen groß über dem Sturm der Leidenschaften, zusammen mit dem Zitat: „Aber die Meerjungfrau hat keine Tränen, und darum leidet sie viel mehr“.

Leiden tut Arielle zwar, aber vor allem im Dienst der Leidenschaft. Von Andersens melancholischer Sentimentalität fehlt im Folgenden, wie schon in der Disney-Vorgängerversion jede Spur. Der zweifache Oscargewinner war damals der erfolgreichste Disney-Film überhaupt, er läutete die goldenen Zeiten des Studios ein. Dass er jetzt mit echten Schauspielern verfilmt wurde, erscheint daher eigentlich nur konsequent.
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Das sehen aber nicht alle so. Schnell überschatteten politische Debatten die Ankündigung eines Familienfilms, der womöglich nur wohlverdiente Ablenkung und Unterhaltung bieten wollte. Einige wunderten sich, warum eine so rückschrittliche Geschichte heute immer noch Anklang findet: die eines Mädchens, das ihre Stimme aufgibt, um einem Prinzen hinterherzulaufen, der ihr erst einmal den Gebrauch einer Gabel mansplaint und sie dann Vertigo-Style nach seinen Regeln einkleidet. Ferner muss die queer konnotierte Meerhexe aus der Ordnung ausgeschlossen werden, damit das heteronormative Ideal erhalten bleibt.
Andere wiederum störten sich nicht an der Geschichte, sondern vielmehr an der Besetzung der Arielle. Seit bekannt wurde, dass die 23-jährige Schauspielerin Halle Bailey die Rolle übernehmen würde, war die unter Hashtags wie #NotMyMermaid versammelte Aufregung groß. Eine Arielle ohne rote Haare und weiße Haut? Für viele unvorstellbar. Zwar werden in Andersens dänischem Märchen weder Haar- noch Hautfarbe benannt (lediglich die Augen der Meerjungfrau werden als blau beschrieben), doch das schien den am Animationsbild wie die Muscheln am Riff klebenden Fans egal. Genauso wie die Tatsache, dass schwarze Meerjungfrauen keine woke Erfindung Disneys sind. Legenden zufolge wurden die Kinder versklavter afrikanischen Frauen, die während der Atlantiküberquerung schwanger über Bord gegangen sind, zu Meerjungfrauen.
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Was beide Arten der Kritik verkennen, ist erstens, dass der Mythos der Meerjungfrau zu den meist adaptierten und veränderten Mythen überhaupt gehört und daher stets die jeweilige Zeit mit reflektiert. Allein zwischen der ersten Disney-Version und der Andersens liegen Welten – genauso wie zwischen der kleinen Meerjungfrau und ihren bis ins Mittelalter zurückreichenden Verwandten, den Sirenen, Melusinen, Loreleys, Undinen und Rheintöchtern. Zweitens entfaltete die Figur der Meerjungfrau, die von ihrer Wandelbarkeit und der ihr eingeschriebenen Reflexion auf die eigene Fiktionalität lebt, immer schon ein subversives Potenzial, lange bevor die Hollywood-Studios mit ihren Diversity-Regeln um die Ecke kamen.
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Argumente hin, Abstrakta her, wie also macht sich Bailey als Arielle? Von Anfang an ist klar: Wer die Schauspielerin auch nur eine Sekunde mit ihrem grün-blauen Fischschwanz, vom Schwimmen durchtrainierten Sixpack und dem rötlich-dunklen, in den Wellen schwebenden Haar sieht, der vergisst alle Vorgängerinnen. Und allerspätestens, wenn die Sängerin ihren Mund aufmacht und die erste Melodie ertönt, betört sie in bester Sirenen-Tradition, sodass auch kein Feind mehr widerstehen kann.
Logik des Verzichts
Wir erinnern uns kurz, worum es geht: Arielle, die Meerjungfrau, verliebt sich in Erik, einen Menschen. Damit ihre Liebe eine Chance hat, geht sie einen Pakt mit der Meerhexe Ursula ein, die ihr Beine zaubert, im Tausch dafür aber ihre Stimme bekommt. Wenn Arielle es nicht schafft, dass Erik sie innerhalb einer dreitägigen Frist küsst, wird ihre Seele für immer Ursula gehören.
Gedreht wurde in Italien, der Schauplatz der Handlung bleibt hingegen unbestimmt. Dänemark, Mittelmeer oder Karibik? Der kürzlich verstorbene Samuel E. Wright lieh der Krabbe Sebastian im Animationshit einen trinidadischen Akzent. Für seinen Ohrwurm „Unter dem Meer“ gewann er einen Oscar. Der neue Sebastian (jetzt gesprochen von Daveed Diggs) ist zwar noch rot (wenn auch nicht mehr ganz so knallig), aber kein Dirigent mehr, überhaupt haben die CGI-gepanzerten Tierbegleiter eine eher enttäuschende Entwicklung durchgemacht. Zwei der besten Animationsszenen fehlen unbegründet: das von Sebastian anfangs dirigierte Konzert, auf dem Ariels Fehlen für Verstimmung sorgt, sowie sein wilder Tanz um den höfischen Kochtopf. Dafür überzeugen die animalischen Stimmen, besonders die der Rapperin Akwafina, die für die Möwe Scuttle kreischt.
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Melissa McCarthy als Sündenbock, Tyrannin und Krake mit Dragqueen-Allüren versprüht tintenschwarze Bosheit. Das aus „Bridgerton“ bekannte Prinzip der Farbenblindheit beherrscht sowohl die Unterwasserwelt als auch den ländlichen Königshof: Ariels Vater Triton (Javier Bardem) ist weiß, ihre Schwestern schimmern in allen erdenklichen Farben, Erik (Jonah Hauer-King), der weiß ist, hat wiederum eine schwarze Mutter (Noma Dumezweni). Oben funkelt es ebenso bunt wie unten, und überall ist Freude und Lachen. Mit dem Übergang vom Meer aufs Land vollzieht sich keine Abkehr vom quirligen Märchen zugunsten der stummen Wirklichkeit, von der bunten Poesie zur grauen Prosa, sondern alles erscheint harmonisch vereint.

Weniger lassen die Neu-Besetzungen Rückschlüsse auf die Unmöglichkeit der Liebe zwischen verschiedenen Ethnien oder Kulturen zu – ein Problem, das im Ariel-Stoff grundsätzlich angelegt ist, als Differenz zwischen Wasser und Land, aber hier nicht weiter vertieft wird –, als sie vielmehr einen Generationenkonflikt ins Zentrum hieven. Die jungen Leute wollen raus, weg aus den engen Grenzen der Familie und Heimat, die Ferne erkunden.
Die Eltern hingegen verspüren ein stärkeres Bedürfnis nach Sicherheit und Konvention. Arielle, die einzige Triton-Tochter, die nicht auf „a“ endet und schon per Name auf die Himmelssphäre verweist, will alles über die Menschen wissen, sie errichtet ein eigenes Museum mit menschlichen Gegenständen und liest deren Bücher, während ihr Vater mahnt, dass ihre Mutter bei einem Schwimmgang an die Oberfläche umgekommen sei.
Erik fährt mit dem Schiff hinaus, um fremde Kulturen kennenzulernen, um nicht abgehängt zu werden, wie er seiner Mutter attestiert, die ihn mit Triton-gleicher Strenge vor Schiffsbrüchen warnt. Dass der gewaltsame Umsturz der Tyrannin Ursula nach wie vor als einzige und jeder Tücke erhabene Möglichkeit auserkoren wird, sich aus dem ungünstigen Deal herauszuwinden, zeugt von politischem Revolutionsgeist und lässt das Disney-Märchen weniger harmlos dastehen als man auf den ersten Blick annehmen könnte.
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Die Verlogenheit der Serien
Die Nixen-Logik ist eine des Verzichts– sie kann nicht weinen, nicht laufen, später auch nicht mehr singen, nicht sprechen, sich kaum erinnern –, was sie zu einer Fundgrube für ambitionierte Deutungen macht. Schon früh wurde die Unfähigkeit der Fischfrau, die eigene Liebe zu artikulieren und auszuleben, mit Andersens eigener Homosexualität in Verbindung gebracht.
Der Literaturwissenschaftler Andreas Kraß deutet die nach dem traditionellen Muster der gestörten Martenehe, also der tragischen Beziehung zwischen Mensch und Fee, verlaufende Geschichte der Meerjungfrauen als Sinnbild der Liebe (der Geschlechterdifferenzen zwischen Mann und Frau, der Unvereinbarkeit von Passion und Bürgerlichkeit), aber auch als Sinnbild der Literatur. Wer will, kann auch bei Disney hinter jeder Koralle poetologische Anspielungen finden.
Es ist ein Paradigma des Sehens, das „Arielle“ entwirft, quasi eine Meta-Reflexion auf das Filmemachen und -schauen. Das erste, was Arielle von den Menschen sieht, sind ihre Beine. Ihr Kopf taucht aus dem Wasser auf und befindet sich genau auf der Höhe, auf der die Füße der Seefahrer im Takt stampfen. Die Männer wiederum sehen zuerst ihren Schatten – oder handelt es sich doch um einen Delfin? Überall Blickachsen, Beobachtungsszenarien, Deutungsfallen.

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Es ist kein Zufall, dass der erste Gegenstand, der ins Wasser fällt und in Arielles Sammlung an menschlichen Gegenständen gelangt, ein Fernrohr ist. Aus dem unterschriebenen Vertrag, der 1989 noch den Deal mit dem Teufel besiegelte, macht Regisseur Rob Marshall eine Schuppe, die Arielle sich herausreißen muss – und verortet den Akt somit erstens näher an der Gewalt der herausgerissenen Zunge des Andersschen Originals und zweitens in einem Zeitalter des Bildes statt der Schrift.
Arielle beobachtet das Leben auf dem Land, als wäre es ein Theater. Unterwasser schmachtet sie eine Statue Eriks an, und anders als er, der sich in ihre Stimme verliebt, ist ihr Begehren visueller Natur. So wird auch der Kinobesucher zum in den Sessel gefesselten Odysseus, der gebannt genießen, lauschen und zuschauen darf, ohne sich von den Lockungen auf der Leinwand ins Verderben reißen zu lassen.
Eine Warnung
„Lass dich nicht von dem zurückhalten, was sein sollte. Denk nur an das, was ist“, diesen Rat erhält Erik von einem treuen Freund. Nur: Die hier etablierte Konkurrenz zwischen Fiktion und Fakt lässt sich nicht aufrechterhalten, denn die Priorität der Realität vor dem Wunsch ist eine Entscheidung für und gegen Arielle zugleich. Schließlich ist sie das, was ist, also die stumme Frau, die leibhaftig anwesend ist, sodass ihr Geliebter sich nicht mehr nach der singenden Frau seiner Träume sehnen muss. Andererseits ist sie auch die Meerjungfrau, also die Gestalt aus Eriks Träumen. Ein Dilemma, aber ein schönes.
Und wer würde es dem treu-doofen Prinzen und seiner naiv-schwärmenden Angebeteten vergönnen? Barfuß stolpern sie durchs Leben und soviel unvorsichtiges Vertrauen will man belohnt sehen.
Die zentrale Frage lautet aber letztlich: Braucht es diesen Film, haben wir – unabhängig von der fehlgeleiteten Hautfarben-Debatte – eine neue Arielle wirklich nötig? Schon 1836 bekundete Heinrich Heine seinen Missmut gegenüber dem Meerjungfrauen-Boom: „Unsere Zeit aber stößt alle solche Luft- und Wassergebilde von sich, selbst die schönsten, sie verlangt wirkliche Gestalten des Lebens, und am allerwenigsten verlangt sie Nixen, die in adlige Ritter verliebt sind.“ Der neue Film verzaubert und hält der Animationsversion trotz Verwandlung eine fast ebenso ungebrochene Treue wie die Meerjungfrau dem Prinzen. Zum Glück hat niemand auf Heine gehört.
Ab 25. Mai im Kino.